Museumsbesuch

Christine Eulriet • 4. April 2023

Kulturellen Hintergrund vermitteln dank Übersetzung

Sitzende Frau im Museum, wie sie zwei grosse Bilder vor ihr betrachtet

Der Übersetzer-Alltag ist immer gut für Überraschungen – und nicht nur für den oder die Übersetzer:in selbst. Eine städtereisende Tochter bringt eine Erkenntnis mit nach Hause, die mich gleich in mehreren Hinsichten staunen lässt.


Reisen und Perspektiven schaffen

«Les voyages forment la jeunesse» – soviel wie «Reisen bildet die Jugend». Mit diesem Sprichwort drückt man im französisch­sprachigen Raum aus, dass das Reisen den Horizont und den Erfahrungs­schatz von jungen Menschen erweitert.


Den Wahrheits­gehalt der Redewendung prüfend, machte sich eine Tochter vor gar nicht so langer Zeit in Richtung Benelux auf. Irgendwann führte der Weg nach Brüssel, und irgendwann später wieder nach Hause.


Ihren Berichten nach ist die Scharfsinnigkeit des Sprichworts nicht von der Hand zu weisen: Die Kreditkarte wollte nicht so recht, also musste sie kreativ werden, und der französische Streik Anfang März hat die Reise unterbrochen. Aber nun, sie war dort und auf dem Programm stand: Grand-Place, Manneken Pis, viele Fusswege durch die Stadt und zwischendurch Waffeln und Chocolats, bien sûr.


Kunst bildet… aber nicht immer alle

«Und ach ja, ich habe noch eine tolle Ausstellung gesehen. Da habe ich an dich gedacht, Mama. Sie war im Fin-de-siècle-Museum.»


 «Ach so, warum denn?», versuchte ich so unauffällig wie möglich zu fragen – Ich hatte schon Angst, das Kind will mir offenbaren, dass es «Fin de siècle»* mit meinem fort­schreitenden Alter verbindet.


 «Na ja, die Ausstellung war super, und die Infos zu den Exponaten waren ausführlich und anschaulich geschrieben. Sie waren auf Französisch. Es gab auch welche auf Englisch, aber wesentlich kürzer. Als mir das bewusst wurde, hörte ich schon, was du gesagt hättest», grinste sie mir entgegen. «Und ich habe Mitleid mit den Besuchern gehabt, die auf die englischen Tafeln angewiesen waren: soviel ist ihnen entgangen!»


Jetzt war ich sprachlos: Fallen Probleme mit Übersetzungen wirklich nur Leuten auf, die sich eh in den zwei Kulturen auskennen? Ausgerechnet weil sie die zwei Kulturen kennen? Ist es für andere uninteressant, ein Mangel an Vorstellungsvermögen, Gleichgültigkeit? Wer entscheidet, wie das Museumserlebnis der ausländischen Besucher zu sein hat bzw. wird? Eine Person, die die Koordinierung der Übersetzung mal nebenher aufgebürdet bekommen hat oder eine, die weiss, worauf es ankommt? Eine, die das vielleicht mal selbst erlebt hat und die sich in die Customer Journey projizieren kann?


Wissen Sie, was 1515 passiert ist?

Kultur vermitteln mit abgespeckten Übersetzungen? Besser als Nichts, lautet die naheliegendste Antwort. Mag sein, aber um Kulturelles zu vermitteln, muss es nicht weniger, sondern tendenziell mehr Text werden. Denn den Ausländern fehlt nicht nur die Fähigkeit, die fremde Zunge zu lesen und zu verstehen, sondern vor allem das kollektive, implizite Wissen. Dieses Wissen hilft dabei, Querbezüge herzustellen und dem Werk eine weitere Dimension zu geben, weil es dieses in einem neuen Licht erscheinen lässt.


Fragen Sie jede beliebige Person in Frankreich, was 1515 passiert ist. Es wird wie aus der Pistole geschossen die Antwort kommen: «La bataille de Marignan» (also die Schlacht bei Marignano). Oder Sie fragen wieder Franzosen, was das Rütli ist. Oder wo es ist. Eine gewisse Ratlosigkeit dürften Sie bei Ihrem Gegenüber spüren.


Das kleine Beispiel zeigt, welche Rolle kulturelle Hintergründe in einer Übersetzung spielen.


Gesprächsthema Nr. 1?

Zurück zur Tochter: Auch ich hatte Mitleid, und zwar mit ihr. War zu Hause wirklich schon so oft Übersetzung (oder eben fehlende Übersetzungen) Gesprächsthema gewesen? Ja, schon möglich. Aber, sooo oft, dass ich das Virus übertragen hatte? Hmm… Armes Kind.



Besprechen wir Ihr Übersetzungsprojekt?


* Fin de siècle: wörtlich « Ende des Jahrhunderts », bezeichnet künstlerische Strömungen und Bewegungen in Frankreich und Europa, die über eine Zeitspanne von etwa 1880 bis 1914 andauerten. 


Über die Autorin

Bonjour! Ich bin’s, Christine Eulriet, begeisterte Französischübersetzerin. Mein Blog ist das Ticket für hinter die Kulissen meines Berufs: Wir schauen zusammen, worauf es ankommt, wenn Übersetzungen von mittelmässig zu wow werden sollen. Schlechte Übersetzungen? Nichts womit man leben muss: Hier erfahren Sie, wie Sie Ihren mehrsprachigen Auftritt beherrschen.


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