Französisch soll eine chaotische Sprache sein, in der gefühlt die Hälfte der gedruckten Buchstaben nicht ausgesprochen werden. Hingegen sei Deutsch sehr logisch aufgebaut. Als nicht muttersprachige Nutzerin des germanischen Idioms habe ich einen freieren Blick auf diese Sprache und ihre reizvollen Widersprüche. Daher kann ich sagen: Deutsch hat auch seine Schattenseiten – logisch betrachtet, versteht sich.
Immer wieder werde ich damit konfrontiert, dass Französisch zwar eine sehr schöne, aber chaotische Sprache sei, in der gefühlt die Hälfte der gedruckten Buchstaben nach dem Prinzip Zufall – oder gar Willkür? – ausgesprochen bzw. ausgelassen werden. Hingegen sei Deutsch eine sehr klare, prinzipientreue und logisch aufgebaute Sprache. Das stimmt. Wenn man die Aussprache betrachtet und es mit den schwindelerregenden acht Möglichkeiten des Französischen für den Klang «O» vergleicht. Die Zählweise ab 70 ist noch nicht einmal erwähnt. Aber so einfach ist es eben nicht immer, denn Deutsch lässt Logikliebhaber:innen auch mal staunen.
Aber nun werfen wir einen kurzen Blick auf den hin und wieder aufblitzenden Wildwuchs des Deutschen. Dieser reizende Charakterzug hat mir sogar die Idee für den Namen dieses Blogs gegeben: «Baumgarten & Kinderschule (oder andersherum)». Der reinen Logik nach müsste es im Deutschen so lauten. Aber nein, es heisst in Wirklichkeit Baumschule und Kindergarten. Ich liebe die Vorstellung von Lehrer:innen, die schauen, dass Bäume nicht krumm wachsen und von Gärtner:innen, die Topf- und Freilandkinder immer wieder mit passendem Nährboden versorgen.
Bleiben wir bei Komposita. Eine beneidenswerte Erfindung der deutschen Sprache, muss man respektvoll anerkennen. Aber die innewohnende Logik dieses linguistischen Bausatzes besitzt manchmal einen Gruselfaktor, der erst beim Vergleichen von zwei Wörtern entsteht. Zum Beispiel: Olivenöl und Babyöl. Rein logisch, müsste man sich darauf verlassen können, dass die Wortbildung entweder die Herkunft oder die Bestimmung des Produktes beschreibt, aber nicht beides vermischt.
Der deutsche Satz ist eine absolute Wunderwaffe. Als Mischung aus Memory-Spiel und «Surprise-Surprise» erlaubt der Satzbau die tollsten Effekte, zum Beispiel:
«Die auf dem Feld allgegenwärtige Nr. 10, die wie ein Automat blitzschnell nach vorne geprescht war, darauf hoffend, vielleicht noch einen hohen, volleyartigen Ball zugespielt zu bekommen, um die verkorkste Situation zu retten, ▢ torkelte ▢ jubelte ▢ traf ▢ verpatzte ▢ überragte ▢ fiel.»
(Bitte Treffendes ankreuzen).
Dieser frei erfundene Satz beinhaltet 34 Wörter und die Auflösung kommt erst mit dem allerletzten Wort! Der Sprache Deutsch wird ein Hang zum Detaillierten, Klaren, Handfesten nachgesagt. Ist ein solcher Satzbau mit grösstmöglicher Unsicherheit vielleicht nur eine unbewusste Art, diesem nachgesagten Genauigkeitskorsett zu entfliehen?
Verben mit Präfixen, die unterschiedliche, tlw. gar gegensätzliche Bedeutungen einnehmen, gibt es durchaus. Französisch kennt das Phänomen (ohne Präfixe) bestens. Aber eben, es ist ja keine logische Sprache, nicht wahr? Ein kleines Beispiel gefällig? Übrigens auch mit Gruselfaktor: «Der Autofahrer wird den Fussgänger umfahren.» Wird er ihn nun also umfahren oder umfahren? Oder weniger dramatisch: ausbauen bedeutet entweder entfernen oder erweitern. Mei o mei!
Die Zählweise in Frankreich ist für ihre aberwitzige Rechnerei ab 70 berühmt berüchtigt, Belgien und die Schweiz waren da pragmatischer und zählen durchgängig von 10 bis 100 nach dem gleichen Muster. Auf Deutsch ist das Zählen zwar nicht mit Rechnen verbunden, aber durch die «geisterfahrerhafte» Sprachfolge ein Garant für Kopfschmerzen und Zahlendreher. À Propos: Ein Wort für Zahlendreher gibt es im Französischen nicht. Was schliesse ich daraus? Dass, auch wenn unsere Zählweise exzentrisch und fernab jeder Logik wirken mag, wir offensichtlich das Wort nicht so oft verwenden wie im Deutschen müssen. Soviel dazu. Wer zu diesem Thema schmunzeln möchte, schaut sich für Französisch diese KARAMBOLAGE-Folge und für Deutsch diese auf arte an.
Kurz gesagt also: Ob Französisch chaotisch oder Deutsch logisch ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Am Ende sind Sprachen wie ein bunter Garten voller überraschender Blumen. Manche blühen nur im Verborgenen und andere erstrahlen in voller Pracht. Und hin und wieder geht der Wildwuchs als Sieger hervor über das stützende Gerüst der Sprache, die Grammatik. Und das ist gut so, denn es sind ja die Überraschungen, die den Charme ausmachen. In der Sprache wie im Leben.
Über die Autorin
Bonjour! Ich bin’s, Christine Eulriet, begeisterte Französischübersetzerin. Mein Blog ist das Ticket für hinter die Kulissen meines Berufs: Wir schauen zusammen, worauf es ankommt, wenn Übersetzungen von mittelmässig zu wow werden sollen. Schlechte Übersetzungen? Nichts womit man leben muss: Hier erfahren Sie, wie Sie Ihren mehrsprachigen Auftritt beherrschen.
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Wenn es nicht 08/15 werden soll
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